TOUR DE VERKEHRSWENDE 2022
Fahrrad-Demo von Stuttgart nach Berlin
Von Erhard Georg
Nach 2021 veranstaltete der Berliner Verein Changing-Cities zum zweiten Mal die Tour de Verkehrswende, eine verkehrspolitisch initiierte Veranstaltung; als Demo angemeldet, behördlich genehmigt und beinahe durchgängig (in Thüringen fehlte diese Begleitung) durch Polizeikräfte geschützt.
Wie im vorherigen Jahr - da fuhren wir von Essen nach Berlin - nahm ich auch heuer an der Tour teil. Durch das Rhein- und Neckartal erreichte ich den Startort Stuttgart. Dort trafen Teilnehmer*innen aus den unterschiedlichen Bundesländern zusammen.
In 12 Etappen, mit einem Ruhetag in Erfurt, fuhren wir über Heilbronn - Bad Mergentheim - Würzburg - Bad Neustadt/Saale - Suhl - Erfurt - Naumburg -Leipzig - Dessau - Michendorf nach Berlin, wo wir von der Berliner Verkehrssenatorin empfangen wurden.
Wie geplant, wurden wir an jedem Etappenzielort erwartet: von radaktiven Menschen, Initiativen, Vereinen und Entscheidungsträgern, die sich in ihren Gemeinden für eine gerechte Verteilung des öffentlichen (Straßen)-Raumes oder für die Verbesserung der Radinfrastruktur einsetzen. Es ging und geht auch um die Verbesserung des ÖPNV, z.B. durch Reaktivierung stillgelegter Eisenbahnstrecken, die Einrichtung von Rufbussystemen u.ä. Thematisiert wurden auch die erforderliche qualitative und quantitative personelle Aufstockung der Verkehrsplanungsämter, um die Fördergelder und Maßnahmen im Sinne der dringend notwendigen Verkehrswende einzusetzen. Last but not least forderten wir eine Erhöhung der Sicherheit in Bussen und Bahnen um insbesondere Frauen vor Übergriffen zu schützen – und diesen damit die Alternativen zur Autonutzung interessanter zu machen.
Auf diese Weise trafen wir Bürgermeister*innen, Planungsamtsleiter*innen, Verkehrsdezernenten, die Senatorin, ADFC-Ortsgruppen, Bürgerinitiativen und nichtorganisierte Radaktivist*innen. Damit erfüllten wir der Kern und den eigentlichen Beweggrund der gesamten Veranstaltung, nämlich als Lobby für das zügige Vorantreiben der notwendigen Verkehrswende aufzutreten.
Aber auch touristisch kamen wir auf unsere Kosten: angefangen von einem night-ride durch die Stuttgarter Stadtteile (heilix‘ Blechle… 800 Höhenmeter bei einer Stadtrundfahrt!) sahen wir das Neckar-, Kocher-, Jagst-, Main-, fränkische Saale-, Elbe- und sächsische Saaletal. Fuhren durch die Rhön, den Thüringer Wald (höchster Punkt am Rennsteig oberhalb Oberhof) und den Fläming. Querten die Weinbaugebiet Neckar, Mainfranken und Saale/Unstruth.
Wie 2021 war die Tour de Verkehrswende (TdV 2022) wiederum von Hauptamtlichen und vielen Ehrenamtlichen bestens organisiert worden. Die Tagesetappen hatten Längen zwischen 50 und 100 Km, mit wirklich ausreichenden Pausen unterwegs. Unsere Übernachtungsorte waren schon ziemlich außergewöhnlich. Wir zelteten in einem Freibad, an einer Radrennbahn, in Kanu- und Ruderclubanlagen direkt an den Flüssen, auf Sportplätzen und auf Waldcampingplätzen. Uns begleitete ein Küchenmobil, dessen sehr engagierte Mannschaft uns zwei bis drei vegane Mahlzeiten täglich servierte. Manchmal durften wir beim Geschirrspülen oder Gemüse schnibbeln helfen. Die Teilnehmenden wechselten beinahe täglich. Neben einer Anzahl Unentwegter, die die gesamte Tour mitfuhren, gab es einen großen Austausch nach der ersten Woche (in Erfurt). Manche fuhren drei Tage, einen Tag oder gar nur stundenweise mit uns. Spontan schloss sich uns für mehrere Tage ein Radtourist aus Argentinien an. Der jüngste Mitfahrer war 5 Jahre alt und drei Teilnehmende waren 69 Jahre alt. Einige Tage fuhr eine Frau mit ihrem Hund im Anhänger mit uns. Es war spannend mit den neu dazu Gekommenen ins Gespräch zu kommen. Jeden Abend fanden sich größere und kleine Gruppen zusammen, die meist bei Radler oder alkoholfreiem Bier zusammen klönten. Was da an Fahrrädern unterwegs war, z.T. spektakuläre Eigenbauten, Hoch- und Liegeräder, Hollandräder, Rennräder, Reiseräder -mit und ohne Gangschaltung, elektrisch und biobetrieben - das war schon sehenswert.
Wir erlebten viel Zuspruch unterwegs aber auch üble Beschimpfungen aus vorbeifahrenden Kraftfahrzeugen. „Geht doch mal arbeiten“ war da vergleichsweise noch harmlos. Besonders die Frauen wurden sexuell motiviert übelst beleidigt.
Einen Regentag mussten wir verkraften, ausgerechnet auf der Königsetappe – 100 km zwischen Dessau und Michendorf. Bis auf einen Sturz in Erfurt, ausgelöst durch ein dichtes Netz von Straßenbahnschienen, blieben wir unfallfrei.
Mein Fazit: Das war eine sehr gelungene Radtour mit sehr interessanten Menschen und Begegnungen; bestens organisiert. Ich sah unbekannte Landschaften und Städte und konnte mein Anliegen, die Verkehrswende zu forcieren, mit Gleichgesinnten „auf die Straße“ und an die Menschen bringen. Sollte die TdV auch 2023 stattfinden, kann ich die Teilnahme herzlich gerne empfehlen.
Hier gibt’s mehr Informationen:
https://changing-cities.org/kampagnen/tourdeverkehrswende2022/